Das Gesicht der Kirche vor Ort

Hamburg-Altonas Mitte gleicht einer Großbaustelle. 10.000 Menschen sollen hier bald leben. Die ersten sind schon da, auch Pastorin Vanessa von der Lieth. Denn auch an neuen Glaubensorten wird hier gezimmert.

Hamburg. Ein Möbelwagen steht vor der Tür, Baulärm schallt von nebenan herüber, ein Kran schwenkt Bauteile durch die Luft – in Mitte Altona wird noch ordentlich gebaut. Im Hamburger Westen entsteht auf einem ehemaligen Bahngelände seit ein paar Jahren ein ganz neuer Stadtteil. Wenn alles fertig ist, werden hier etwa 10.000 Menschen mehr wohnen als vorher.
Einige Hundert leben bereits auf dem Gelände, eine von ihnen ist Vanessa von der Lieth. Die Pastorin der Kirchengemeinde Altona-Ost ist das Gesicht der Kirche vor Ort. „Hier ist nichts fertig, vieles ist noch provisorisch. Alle sind noch mit irgendwas beschäftigt“, sagt von der Lieth. Sie sitzt in ihrer Küche und schaut sich um, auch hier ist noch einiges provisorisch. Da ihre Diensträume noch nicht fertig möbliert sind, empfängt sie Besucher gelegentlich noch im privaten Teil der Wohnung.
Bei einer Klausurtagung 2014 hat die Kirchengemeinde beschlossen, dass einer der Schwerpunkte der nächsten Jahre der neue Stadtteil Mitte Altona werden soll. „Die ersten großen Schritte waren der Kauf dieser Pastoratswohnung und der Beschluss, eine evangelische Kita zu eröffnen“, erinnert sich von der Lieth. Bereits Jahre vorher wurde über das Areal an der Harkortstraße diskutiert, doch 2014 verkündete die Bahn, dass sie den Fernbahnhof von Altona nach Diebsteich verlegen wird. „Bis dahin hatten alle noch den Ball flachgehalten, aber dann kam richtig Bewegung in die Sache“, so von der Lieth.
Vier Jahre später steht ein Großteil der Häuser im sogenannten ersten Bauabschnitt. Und mittendrin: Kirche. Nicht in Form eines Gebäudes, sondern mit der Pastorin vor Ort. „Wir haben damals gesagt, wenn wir als Kirche im neuen Stadtteil präsent sein wollen, dann brauchen wir ein Gesicht vor Ort“, sagt von der Lieth.
Welche Gemeinde ist überhaupt zuständig?
Erst einmal mussten aber Akten und Pläne gewälzt werden, denn es musste die Frage geklärt werden, wer eigentlich zuständig ist. Es stellte sich heraus, dass der erste Bauabschnitt zur Gemeinde Altona-Ost gehört und ein Großteil des zweiten zur Gemeinde Ottensen. „Wir haben dann mit allen Anrainer-Gemeinden zusammengesessen, auch mit dem Propst, und das diskutiert. Uns war wichtig, dass wir das gesamte Gebiet zusammen bespielen, damit auch eine Identität im Stadtteil entstehen kann und wir für die Anwohner eine Gemeinde sind“, betont Pastorin von der Lieth.
Wie genau Kirche im Stadtteil später aussehen wird, das sei eh noch nicht klar. Wie alles andere, ist auch Kirche noch nicht fertig. An der Tür der Pastorin steht zum Beispiel noch kein Schild, „weil noch gar nicht klar ist, was da draufstehen soll“, sagt von der Lieth. Klar ist: Eine neue Kirche wird es im Stadtteil nicht geben. „Früher hätten wir eine gebaut, aber davon haben wir genügend, auch in der direkten Umgebung“, betont die Pastorin.
Derzeit gibt es Überlegungen zu einem interreligiösen Zentrum, das im zweiten Bauabschnitt entstehen könnte. In den nächsten zwei Jahren wollen eine Projektgruppe des Kirchenkreises und die Arbeitsstelle „weitblick“ gemeinsam mit Vertretern des Interreligiösen Forums Ottensen ein Konzept erarbeiten, wie ein solches Zentrum aussehen könnte. Das Projekt „Altona Mitt’einander“ wird von Externen moderiert, eine Steuerungsgruppe ist gerade dabei sich zu finden, berichtet von der Lieth. Die 43-Jährige ist sich sicher: „Die Idee wird dann attraktiv, wenn die Menschen vor Ort erleben, dass verschiedene Religionen friedlich miteinander leben.“
So ein Projekt böte viele Chancen, zumal in der Umgebung rund um die Mitte Altona nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung überhaupt in der Kirche Mitglied seien. Wer im neuen Stadtteil der evangelischen Kirche angehört, darüber wird die Kirchengemeinde Altona-Ost vom Einwohnermeldeamt informiert. Die Anwohner, die bereits vor einem Jahr eingezogen sind, haben ihren ersten Gemeindebrief bereits erhalten.
„Ich habe schon viele Taufanfragen und auch schon einige Trauanfragen bekommen“, sagt von der Lieth. Im nächsten Jahr, wenn der Park, der gerade in der Mitte des ersten Bauabschnitts entsteht, fertig ist, kann sie sich vorstellen, ein Tauffest zu feiern.
Alles funktioniert im Moment über persönliche Begegnungen. „Es ist ein bisschen wie früher, wenn man neu in eine Wohngemeinschaft gezogen ist“, meint die Pastorin, „dann fragen einen alle, wer man ist, wo man herkommt.“
Und so führt sie in der Garage, im Innenhof, auf der Straße, in der Schule überall Gespräche mit neuen Nachbarn. Meist stellt sie sich als Pastorin vor. Nur manchmal macht sie eine Ausnahme, wenn ihr einfach so gar nicht danach ist. „Ich bin als Gesicht aber schon sehr bekannt, weil ich bei vielen Bürgertreffs und Foren dabei gewesen bin“, sagt von der Lieth.
Die Nachbarschaft wachse langsam zusammen, sie entwickele sich vor allem über das Quartiersmanagement, die Forderung nach Tempo 30 und die Grundschule, die aus allen Nähten platzt, erklärt die Pastorin. „Kirche ist hier gut aufgehoben. Es gibt viele Themen, die moderiert werden müssen – und darin sind wir gut“, betont sie. Stadtentwicklung, das sei doch genau das Thema der Kirche.
Ganz bewusst hat sie sich dafür entschieden, zunächst als Einzelperson der Kirche aufzutreten und die Institution Kirche erst einmal zurückzuhalten. „Das ist auch ein Selbstfindungsprozess. Die Situation ist für uns ja auch neu“, erklärt von der Lieth.
Alles sei provisorisch. Warum sollte Kirche da als Einziges fertig sein? Viel wichtiger sei es, ein Ohr in die Nachbarschaft zu halten, zu erfahren, was die Menschen beschäftigt, welche Angebote sie vielleicht später brauchen. Im Moment seien viele Sorgen noch der Baustelle geschuldet: Lärm, Dreck, die vielen Baustellenfahrzeuge und dann noch die Frage, wann der zweite Bauabschnitt denn wirklich kommt und damit Ruhe, weil die Bahn wegzieht.
Vanessa von der Lieth begreift den neuen Stadtteil Mitte Altona als Chance für die Kirche vor Ort, anders aufzutreten, auf die Menschen zuzugehen und ein neues Miteinander zu entwickeln. „Da passt es, dass ich ein Faible für Vernetzungsarbeit habe“, sagt sie.

Von Mirjam Rüscher, epd, am 16.04.2019 auf www.evangelisch.de. Foto: Mirjam Rüscher

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