Gedenken an die Polenaktion

vom 28.10.1938 in der Haubachstraße 62.
Am 16. Juni hat der Künstler Gunter Demnig in der Wohlers Allee 62 sechs Stolpersteine für die Familie Friedmann verlegt. Alle sechs Familienmitglieder wurden am 28.10.38 aus ihrer Wohnung in der Wohlers Allee 62 geholt und im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ nach Zbaszyn deportiert. Dort blieben sie verschollen.


Stolpersteine erinnern an jüdische Mitbürger*innen, die verhaftet, vertrieben, deportiert und ermordet worden sind. Wer beim Gehen den Blick nach unten richtet, kann vor den Häusern, in denen die Betroffenen gelebt haben, deren Namen lesen, ihre Geburtsdaten und das Datum der Verhaftung und Vertreibung, oft auch das Todesdatum. Und mit jedem Stolperstein ist, soweit recherchierbar, auch eine biografische Spurensuche über das Leben der Menschen verbunden, deren Namen auf den Steinen genannt sind.

Wie können wir gedenken, oder (Elie Wiesel) „die Pforten der Erinnerung öffnen?“

Wir nennen die Namen der Deportierten, der Verschollenen und der Ermordeten und wir begeben uns an die Orte, an denen die Verbrechen geschehen sind.
Ein Ort ist auch das, was man mit ihm verbindet. In der Wohlers Allee lebten Offiziere der Victoriakaserne, die Häuser treffen den Geschmack zahlreicher Passanten und Anwohnerinnen. Die Bebauung stammt aus der Zeit, als St. Johannis die Garnisonskirche der Kaserne gewesen ist.
Der Ort, an dem wir uns heute versammeln, wurde damals als Exerzierhalle genutzt, dort wurden die Jüdinnen und Juden zusammengetrieben, die man aus ihren Häusern gezerrt hatte und die vor ihrer Deportation nach Polen standen.
Der Gedenkstein am Altonaer Bahnhof ist unweit von dem Gleis errichtet, von dem aus die Züge nach Osten abfuhren.
Ein Ort ist auch das, was man mit ihm verbindet.
Seit ich zum ersten Mal an diesem Gedenken teilgenommen habe, gehören dieses Bahngleis, der Stein am Bahnhof Altona und nun auch diese Halle in der Haubachstraße 62 zu den Orten, die mit Erinnerungen verknüpft sind. Und auch die Kirche, an der ich tätig bin. St. Johannis, die Kulturkirche Altona hat einen schweren Anteil an dem Leid und dem Unrecht, das unseren jüdischen Nachbarinnen und zum Teil ja auch Gemeindemitgliedern, ich spreche von den getauften Juden angetan worden ist.
Der Historiker Hans-Jörg Buss hat im Auftrag des Ev. Luth. Kirchengemeindeverbandes Altona zu den Zusammenhängen der sog. „Judenkartei“ geforscht. In vorauseilendem Gehorsam hatten Altonaer Kirchengemeinden den nationalsozialistischen Behörden Daten und Hinweise aus den Kirchenbüchern geliefert und getaufte Jüdinnen und Juden verraten. Oft waren diese Auskünfte die Grundlage für Verhaftung und Verschleppungen. Im Gebäude Billrothstraße 79 - der damaligen Blumenstraße - war die sog „Sippenkanzlei“ untergebracht, die von den Gemeinde eingerichtete Dienststelle, die die Daten sammelten und an die Nationalsozialisten weitergaben. Hans-Jörg Buss sagt: „Das Gebäude Billrothstraße 79 ... befindet sich noch immer in kirchlichem Besitz und beherbergt … eine Stätte für Obdachlose. Eine Gedenktafel oder eine künstlerische Erinnerung daran, dass sich dort mit der „Sippenkanzlei“ ein Ort der Ausgrenzung und, verzeihen Sie mir die harte Formulierung, ein Ort des kirchlichen Verrats befand, halte ich für mehr als angebracht.“

Die Kirchengemeinde Altona-Ost hat sich diesen Vorschlag zu eigen gemacht und wird sich dafür einsetzen, dass er umgesetzt wird.
Ein Ort ist auch das, was man mit ihm verbindet, dafür muss man wissen oder eben erfahren, was dort geschehen ist.

Wie können wir gedenken? Tage heiligen, als Zeit weihen und widmen, Orte kenntlich machen, Namen nennen und weiter forschen, ob sich mit den Namen auch Gesichter und Erlebnisse, Lebensgeschichten oder Fragmente eines Lebens verknüpfen lassen, dem Vergessen entwinden lassen.

Jonas Jakubowski - Vorstand im Stadtteilarchiv Ottensen, studiert im Master Geschichte, freier Mitarbeiter der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte bzw. der KZ-Gedenkstätte Neuengamme - hat einen Brief entdeckt, vom 31. März 1941, einen Brief von Selma Siegmann an Anna und Heinrich Hölzel in Altona, ein einziges Lebenszeichen nach der Deportation, er wird uns dazu gleich einige Worte sagen.

Das Gebetbuch der Synagoge ist auch das Gebetbuch der Kirche. Der Überlieferung nach hat Jesus am Kreuz mit Worten des 22. Psalms gebetet. 2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. 3 Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe. 4 Aber du bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels. 5 Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus. 6 Zu dir schrien sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden. 7 Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volk. 8 Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf: 9 »Er klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.« 10 Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen; du ließest mich geborgen sein an der Brust meiner Mutter. 11 Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an, du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an. 12 Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer. 20 Aber du, HERR, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen! 21 Errette mein Leben vom Schwert, mein einziges Gut von den Hunden! 22 Hilf mir aus dem Rachen des Löwen / und vor den Hörnern der wilden Stiere – du hast mich erhört![1] 23 Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern, ich will dich in der Gemeinde rühmen: 24 Rühmet den HERRN, die ihr ihn fürchtet; ehrt ihn, all ihr Nachkommen Jakobs, und scheut euch vor ihm, all ihr Nachkommen Israels! 25 Denn er hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend des Armen und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen; und da er zu ihm schrie, hörte er’s.

Ich höre und bete diese Worte auch als ein Gebet derer, die von der „Polenaktion“ betroffen waren.
Wie können wir gedenken? Uns vergegenwärtigen, was geschehen ist? Wir können es einen Teil unserer Gegenwart werden lassen.

[Text: Michael Schirmer.]

Download Kirchenkreis Flyer

Login