Kniefälle. Impuls und Predigt zum Thema Rassismus

05.07.2020

Ich bin heute hier, um meine Sicht auf das Thema Rassismus zu teilen. Ich habe keine Erfahrungen mit diesem Thema. Ich habe nicht einmal Menschen in meinem engen Umfeld, die unter rassistischer Diskriminierung leiden. Es stellt sich also sehr stark die Frage, was mach ich überhaupt hier?

Beiträge aus dem Gottesdienst in St. Johannis zum Nachlesen und Hören.

Impuls von Karla Eberle

Predigt von Pastor Michael Schirmer

Seit dem Tod George Floyds sprechen die Medien von einer verstärkten Rassismus-Debatte, auch in Deutschland. Im Gespräch über den heutigen Gottesdienst hat mich ein Freund darum gebeten, diese Formulierung zu vermeiden. Nach einigem Überlegen stimme ich ihm zu, denn wenn man sich die deutsche Medienlandschaft anguckt, wird immer wieder die gleiche Frage gestellt: Gibt es Rassismus auch in unserem Land? Manchmal noch mit einer vorgestellten Differenzierung, ob es denn auch strukturellen Rassismus gäbe. Nein, es ist keine Debatte, ob es Rassismus gibt. Es könnte eine Debatte sein, wie man Rassismus am effektivsten bekämpft. Aber es ist klare Geringschätzung zu fragen, ob es ihn gibt.

Mir haben die vergangenen Wochen einen lange überfälligen Anstoß gegeben, drei Dinge zu verstehen. Zu Beginn habe ich verstanden, dass ich zu wenig über Rassismus und seine Geschichte weiß. Dann ist mir klar geworden, dass es ein Privileg ist, über Rassismus zu lernen, statt ihn zu erfahren, und welche Verantwortung damit einhergeht. Und als Letztes habe ich verstanden: Ich bin rassistisch und nur Selbstreflexion und Kommunikation werden das Stück für Stück ändern können.

Was weiß ich also?
Was weiß ich über die Kolonialgeschichte Deutschlands? Nichts. Ich habe in der Schule nicht gelernt, dass in den „nur“ 30 Jahren Kolonialisierung unter Kaiser Wilhelm II 50.000 Herero und 10.000 Nama in Konzentrationslagern ermordet wurden von 1904 bis 1908.

Was weiß ich über Geschichte des Wortes Rassismus? Nichts. Ich habe nicht gelernt, dass das Konzept der „biologischen Rasse“ komplett frei erfunden wurde, um eine Ausbeutung anderer Menschen zu ermöglichen und nicht etwa anders herum, die Ausbeutung primär aus einem Überlegenheitsgefühl geschehen ist.

Kenne ich die Bedeutung von BIPOC, affirmative allyship, cultural appropriation, othering? All diese Begriffe und viele mehr habe ich angefangen zu lernen und einzuordnen. Es wirkt unübersichtlich, kompliziert und fast wie Vokabeln lernen. Aber jeder dieser Begriffe erklärt einen Bruchteil von Diskriminierung, die alle Bereiche unserer Gesellschaft durchzieht.

All das wusste ich nicht. Tupoca Ogette nennt es in ihrem Buch "Exit Racism" das "Happyland", in dem ich aufwachsen durfte. Ich musste all das nicht am eigenen Leib erfahren. Ich durfte Rassismus immer in die rechte Ecke schieben und es so als böse, aber nicht meine Baustelle abstempeln. Das ist ein Privileg. Und zu Privilegien gehört auch immer die Verantwortung, sich selbst darüber zu bilden, wie diese Ungerechtigkeiten, die Privilegien nun mal sind, zustande kommen und welchen Teil man dazu beiträgt.

Ich habe gelernt, dass ich in erster Linie zuzuhören habe. BIPOC, Black Indigenous and People of Color sind diejenigen, die am besten wissen, was ihnen widerfährt. Und nicht wenige machen sich dann auch noch die Mühe, es beruflich oder auch aus persönlichem Aktivismus heraus für den weißen Teil unserer Gesellschaft aufzuarbeiten und in mundgerechten Häppchen zu präsentieren. Aber bitte so, dass sich niemand angegriffen fühlt. Diesen Menschen muss ich dankbar sein. Denn es ist nicht ihre Aufgabe mir schonend beizubringen, dass ich etwas falsch mache. Dass es auch noch rassistisch ist, wenn es als Scherz gemeint war. Ich habe also gelernt, den Impuls zu unterdrücken, mit jeder BIPOC, die mir in den letzten Wochen begegnet ist, über das Thema zu sprechen.

Das bedeutet nicht, dass ich nicht über Rassismus sprechen sollte. Im Gegenteil. Es müssen Tabus gebrochen werden. Weil selbst, wenn es keine Gleichgültigkeit sein sollte, die mich daran hindert, ist es in den meisten Fällen Angst. Angst, etwas rassistisches zu tun oder zu sagen oder gar an eine Stelle zu geraten, mich rechtfertigen zu müssen, weil ja auch ich irgendeine Form von Diskriminierung erfahre. Be an Imperfect ally. Das war einer der unzähligen Instagram Aufrufe, die mich zu an meinen jetzigen Wissensstand geleitet haben.

Dieser Aufruf hat mir den dritten Punkt klar gemacht: Ich bin rassistisch. Und zwar weil ich in einer rassistischen Gesellschaft aufgewachsen bin. Ich habe in der Grundschule "wer hat Angst vorm schwarzen Mann?" gespielt und ich mochte die Puppe mit meiner Hautfarbe lieber als die of Color. Warum, weiß ich nicht mehr. Hab ich das irgendwo aufgeschnappt? Aber es zeigt sich dadurch, wie schon Kleinkinder Rassismus in ihr Wertesystem aufnehmen.

Für jetzt weiß ich, dass ich nicht perfekt bin, noch wirklich lange nicht, in meinem Versuch mich gegen Rassismus einzusetzen. Und dass ich zu allererst an mir arbeiten muss. Es gibt viele Situationen, in denen ich mir nicht sicher bin, ob ein Kommentar oder eine Handlung grenzüberschreitend war. Aber ich habe angefangen, auf sie aufmerksam zu werden und das Thema anzusprechen. Auch wenn das häufig unbequem ist und man Menschen damit kränkt. Nur Zuhören und Lernen in Kombination mit Selbstreflexion und offener Kommunikation können dazu führen, dass ich meine gelernten Muster irgendwann nach und nach ablegen kann. Be an imperfect ally. Und das jeden Tag, auch wenn das Thema wieder an Aufmerksamkeit verliert.

Das habe ich gelernt in den letzten Wochen. Vielleicht gibt es ja ein paar Aspekte in denen es Ihnen und Euch so geht wie mir.

[Text: Karla Eberle. Fotos: Tito Texidor & Nathan Dumlao.]

Weitere Informationen:

Umfangreiches Material ist auf der Homepage des Buches "Exit Racism" zusammengestellt:
www.exitracism.de

Die Homepage der Autorin Tupoka Ogette:
www.tupoka.de

Hilfreiche Begriffsklärungen findet man im NdM-Glossar, dem Wörterverzeichnis der Neuen deutschen Medienmacher*innen
www.glossar.neuemedienmacher.de

Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen.
www.hanser-literaturverlage.de

Kontakt

Pastor Michael Schirmer
Telefon: 040 - 4320 0134
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Bei der Johanniskirche 16
22767 Hamburg

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