Seelsorge in der Gemeinde

12.04.2019
"Sprich mit den Sprachlosen ein Wort, sing mit den Traurigen ein Lied, such mit den Fertigen ein Ziel."

Ein Mann in der Mitte seines Lebens ruft mich an, seine Stimme stockt, er habe eine wichtige OP vor sich und er brauche Rat, ein Gespräch, ob ich Zeit hätte. „Ja, ich habe Zeit für Sie. Gerne können wir uns übermorgen treffen zu einem Seelsorgegespräch.“ Am anderen Ende der Leitung nehme ich eine Klärung der Situation wahr, weil ich sein tastend vorgebrachtes Gesprächsanliegen als Seelsorge benannt habe und ihm damit eine Bedeutung beimesse, für die ich professionell als Pastor „da bin“.

Konfirmandenfreizeit in der Göhrde, Thema: Lebenswege. Konfirmandinnen und Konfirmanden gehen mit verbundenen Augen über ein dickes Seil, das sich über den großen Raum erstreckt, das Seil hat Schlaufen und Knoten, Anfang und Ende. Wir kommen nach dieser erlebnispädagogischen Übung darüber ins Gespräch. Die Konfirmanden erzählen von Trennungen der Eltern, von unfreiwilligen Umzügen, von Neuaufbrüchen und Chancen.

Ankommensrunde bei den Friedensengeln im Seniorenkreis. Wie komme ich heute hierher in die Gruppe? Was ist heute schwer? Was ist leicht? Bei Kaffee und Kuchen dann die Bitte: Könntest du uns mal zuhause besuchen? Der klassische Hausbesuch, dort dann nach anfänglichen Konventionen, Raum und Zeit für die Lebensgeschichte, für zerplatzte Träume, für Schmerz und für ein Gebet, das die Situation aufnimmt.

Eine Gottesdienstbesucherin trauert um ihren verstorbenen Mann, sie wird freundlich von anderen Gemeindegliedern empfangen, in den Arm genommen, zum Tee eingeladen, wenn sie dies wünscht. Ich spüre: Sie mag ein Stück gelöster aus dem Gottesdienst gehen, als sie hineinging.

In allen vier Situationen haben wir es mit seelsorglichen Situationen zu tun.

Seelsorge ist Sorge für die Seele. Sie ist ein zentrales Element christlichen Lebens und somit Aufgabe aller Christinnen und Christen. Seelsorge ist, theologisch gesprochen, Christenpflicht, in der die eigene Erfahrung des Geliebtseins durch Gott in einer offenen und zugewandten Haltung gegenüber dem Mitchristen als Schwester und Bruder „im Herrn“ zum Ausdruck kommt: „Freut euch mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden“ (Röm 12.15), nennt das Paulus in der Bibel.

Zur Seelsorge in der Gemeinde sind also alle berufen, um einen gemeinschaftsstiftenden, wechselseitigen Umgang zu ermöglichen.

Darüber hinaus gibt es in unserer Kirche die Seelsorge als Auftrag der Gemeinde. Bei dieser Form der Seelsorge geht es nicht um eine Wechselseitigkeit, sondern „ganz“ um den Anderen um seiner selbst willen. Diese Form der Seelsorge bedarf einer Form der Professionalität, die sich äußert in einem Unterscheidungswissen zwischen Auftrag und eigener Privatheit, zwischen einem „Auf-das-Gegenüber-Ausgerichtet-Sein“ und persönlichen Interessen. Dazu bedarf es einer bestimmten Abstinenz: das Aushalten einer unerträglichen Situation ohne vorschnelles Greifen nach Antworten und Lösungen. Sie ermöglicht eine gehaltene offene Haltung und schafft damit einen Raum, in der sich der Ratsuchende mit dem, was ihm auf der Seele liegt, geschützt offenbaren kann.

Für diese Haltung braucht man viel Übung, einen theoretischen Rahmen für einen seelsorglichen Handwerkskoffer und die kollegiale Reflexion darüber, wie ich mich als Seelsorger in einem Gespräch gefühlt und verhalten habe. Seelsorge dieser Form braucht einen verlässlichen und geschützten Raum, und es sollte keine gegenseitigen Abhängigkeiten geben. Für diese Form der Seelsorge sind in unserer Kirche Pastorinnen und Pastorin ausgebildet. Aber nicht nur: Auch Ehrenamtliche in Besuchsdiensten und der Telefonseelsorge durchlaufen eine seelsorgliche Ausbildung.

Seelsorge in beiden Formen sind ein hohes Gut, das wir als Kirche mit großer Sorgfalt pflegen sollten. Denn wir leben in einer Zeit, in der die Menschen zunehmend alles für sich und mit sich ausmachen müssen, ihre Freude, ihre Trauer, ihre Angst. In der Kirche nicht.

In unserer Gemeinde haben wir wertvolle Orte, wo die tiefsten Regungen wie Angst, Schuld, Trauer und Glück einen Platz haben, ohne dass die Intimität verletzt wird. Hier darf geweint werden, vor Freude, vor Rührung, bei einer Hochzeit, einer Taufe oder einem Konzert, vor Kummer, wenn der Name der verstorbenen Frau verlesen und für sie gebetet wird. Hier kann die Trostlosigkeit einen Ort haben, ohne vorschnell vertröstet zu werden.

Was aber ist Trost? Das halte ich für die Gretchenfrage der Seelsorge. Eine meiner theologischen Lehrerinnen, Ulrike Wagner-Rau, schreibt dazu: „Weil alle zunehmend zu Migranten und Migrantinnen werden, die durch unterschiedliche Lebensverhältnisse ziehen, in denen vieles unvollendet bleibt, scheint es mit immer weniger überzeugend zu sein, Trost als einen Moment dauerhafter Stabilisierung zu definieren. Eher überzeugt es mich, ihn als eine Kräftigung dafür zu verstehen, sich in den ständigen Veränderungen zu beheimaten: in Zelten zu wohnen satt in festen Häusern. Nicht darin „fertigzumachen“, zu vollenden - am wenigsten sich selbst - läge der Trost, sondern darin, in hoffender Bewegung unterwegs zu bleiben, nicht bei sich ankommen zu wollen, sondern bei Gott.“

Lassen Sie uns in diesem Sinne miteinander als seelsorgliche Kirche hoffend unterwegs sein.

Lennart Berndt

Login