Zwischen St. Pauli und Bonfim

26.09.2019

Raus aus Curitiba. Mit dem Auto 30 Minuten entfernt vom Zentrum der 1,8 Millionen Stadt im Süden Brasiliens. Entlang der Landstraße, den vielen Lastwagen hinterher, die sich auf den Weg nach São Paulo oder Rio machen.

Und alle paar 100 Meter drüber über die „Lombadas“, die Alphalt-Hügel, die Brasiliens Tempolimit in ihrer steinernen Faust halten und dem Leben eine fast faire Chance geben, beim unerlässlichen Überqueren der Autobahn. Das an einem Laternenmast befestigte Schild lockt: Motel Seduções, 2 km. Weit ist es jetzt nicht mehr, denn neben dem stündlich zu mietenden Etablissement steht an einem flachen Bau in unübersehbaren schwarzen Buchstaben: Projeto Dorcas. Ein Ort, an dem Träume Wirklichkeit werden? Vielleicht nicht für alle, aber zumindest einer, um der Wirklichkeit ins Auge zu blicken und erst einmal das Träumen zu lernen. So viel auf jeden Fall mein Fazit nach knapp einem Jahr im Projekt.

Auf der anderen Seite der viel befahrenen Straße sieht die Realität nämlich ein bisschen anders aus. Das Viertel „Bonfim“ ist ein sozialer Brennpunkt, in dem die meisten Bewohner in Armut leben. Ein Viertel mit hoher Kriminalität, vielen Kindern und schlechter Bildung. Wenn ich von Armut spreche, spreche ich auch von ungepflasterten Straßen, Wellblechhütten und Hunger. Und wenn ich von Bildung spreche, spreche ich auch von fehlender Alphabetisierung und Fragen wie „Fährst du jeden Tag nach Hause nach Deutschland?“. Wer Veränderung anstrebt, findet das Hauptproblem jedoch nicht im fehlenden Geld oder in schlechten Schulen.

Der Frage „Was wird denn eigentlich gebraucht?“ hat sich das Projekt seit seiner Gründung 1996 immer wieder neu gestellt. Zu Beginn ging es schlicht um die Versorgung mit Nahrungsmitteln. Schnell wurde jedoch klar, dass das die Situation nicht langfristig verbessern würde. So wurde Dorcas zwischenzeitlich zu einer Kirche, in der Gottesdienste und Seelsorge stattfanden. Heute setzt das Projekt auf eine ganzheitliche Förderung von Kinder und Jugendlichen von 6 bis 18 Jahren. Das Ziel ist es, so auch zur nachhaltigen sozialen Veränderung im Stadtviertel beizutragen. Denn die Armut, die das Leben im Bonfim so schwierig macht, ist eine kulturelle Armut.

Sprachbarriere hin oder her, es ist am Anfang des Semesters am Habitus der Schüler zu erkennen, wer alteingesessen und wer neu angekommen ist. Dabei ist es egal, ob der Schüler schon mit sechs Jahren oder erst als Jugendlicher ins Projekt kommt. Er wird von Zuhause kaum ein Verständnis für Grenzen, Eigenverantwortung oder Initiative für die Gruppe mitbringen. Müll wird achtlos auf den Boden geworfen, Unterricht geschwänzt, die Dinge anderer nicht respektiert. Oft fehlt es aber an noch viel grundsätzlicheren Lektionen wie Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl und Zuneigung zu erkennen oder ausdrücken zu können. Bekommt man jeden Tag von seiner Mutter zu hören, wie dumm man sei, ist es nicht verwunderlich nicht an sich zu glauben. Besonders zu sehen ist das in der immensen Freude, wenn es dann doch mal klappt und einem endlich mal jemand sagt: Hey, gut gemacht!
Das persönliche Trauma jedes Einzelnen durch Vernachlässigung, Gewalt und nicht selten sexuelle Übergriffe kommt dann noch dazu. Daher erstaunt es nicht, dass sich im Verhalten der Schüler jedes vorstellbare Extrem zeigen kann. Es gibt Schüler, die kein Wort sprechen und einfach nur mitlaufen, Schüler, die als einzige Lösung ihrer Probleme Draufhauen kennen, Schüler, die keine feste Nahrung zu sich nehmen und Schüler, deren Weg das Wegrennen ist.

Auch das Schulsystem kann diese Muster nicht durchbrechen. Lehrer und Lehrerinnen sind nicht genug ausgebildet, desinteressiert oder überfordert mit den Klassengrößen. Also haben die Kinder und Jugendlichen nicht einmal dort die Chance über den Tellerrand ihres Viertels hinaus zu gucken. Was sie kennen, sind Drogen und Kriminalität und so sehen sie auch ihre eigene Zukunft in Drogen und Kriminalität. Das erste Mal habe ich das mitbekommen, als ich mit der jüngsten Gruppe, den 7-9-jährigen in der Traumwerkstatt mitarbeiten durfte. Natürlich, auch hier gibt es zukünftige Prinzessinnen. Aber eben auch einen Jungen, der wollte Polizist werden. „... und Drogenhändler. Zusammen. So wie mein Onkel."

Ich frage mich, warum kommen die Kinder und Jugendlichen trotz Regeln und Grenzen jeden Tag ins Projekt? Weil sie hier dazugehören und zwar bedingungslos. Ein Gefühl, das die Wenigsten kennen. Alle sind gleich viel wert und tragen die gleiche Verantwortung für das Miteinander. Es werden alle nach denselben Maßstäben gelobt und kritisiert.

Dazu kommt, bei Dorcas ist für jeden was dabei: Fußball, Musik, Malerei. Gerade dieses Angebot ist für die Schüler und Schülerinnen besondere Motivation. Manch einer entdeckt ungekannte Talente in sich und erfährt, dass Anstrengung lohnenswert sein kann, für sich und die Gemeinschaft. Gegen Ende meiner Zeit im Projekt habe ich eine Klasse von Jugendlichen unterrichtet. Selbst sie, die schon einige Jahre Teil von Dorcas sind, haben immer noch intensive Schwierigkeiten mit Grenzen und Respekt. Und natürlich ist es auch dort nicht anders, dass man manchmal einfach alles, was im Unterricht passiert, langweilig finden muss! Trotzdem habe ich sie irgendwann mit der Frage konfrontiert: „Wenn das alles so doof ist, was wir hier machen, warum kommt ihr denn dann jeden Tag her?" Sport, Kunst, Trompete - die Antworten kamen kleinlaut, aber das Bewusstsein, welche Möglichkeiten ihnen das Projekt bietet, besteht durchaus!

Ich bin in der Mitte des Schuljahres und ohne ein Wort Portugiesisch dazu gestoßen. Ich habe die Kinder und Jugendlichen vor ihren Geschichten kennengelernt. Ein glücklicher Zufall, für den ich sehr dankbar bin!
Denn ich durfte sie als das kennenlernen, was sie sind: Kinder. Kinder, die spielen und toben; Kinder, die neugierig sind und Kinder, die Zuwendung brauchen und in den Arm genommen werden müssen. Als ich nach und nach die Einzelschicksale kennenlernte, blieb mir nicht selten der Atem weg.
Nachdem ich gelernt hatte, was diese Kinder schon durchgemacht haben, konnte ich sie auch in ihrem Verhalten besser verstehen. Und mir wurde klar, wie wichtig es ist, sie alle gleich zu behandeln, respektvoll statt mitleidig und mit Zuversicht. Denn wie gesagt, ist es gerade das, was den Zusammenhalt der Gruppe erst möglich macht. Außerdem hat meine Reaktion mir gezeigt, dass die eigentliche Schwierigkeit an der Arbeit bei Dorcas ist, die Hoffnung zu bewahren. Denn nicht selten verlassen die Kinder und Jugendlichen das Projekt wieder, teils obwohl sie gerne blieben, weil ihre Eltern es überflüssig finden, oder nicht mit dem nötigen Nachdruck zu Anwesenheit mahnen, wenn die Welt der Drogen und des Alkohols lockt.

Den Glauben nicht verlieren, bedeutet zuerst einmal, die kleinen Erfolge zu feiern. Ein Beispiel ist ein Schüler, der im März etwas später als alle anderen Neuankömmlinge zum Projekt dazu stieß. Natürlich war es schwierig Anschluss zu finden, an Klassenkameraden aber besonders auch an die Unterrichtsinhalte. Ohne Erfolgserlebnisse macht auch Musikunterricht keinen Spaß. Besonders wenn alle anderen die Texte der Lieder schon kennen und die Melodien auf der Flöte spielen. Ich konnte mir ein bisschen mehr Zeit für ihn nehmen und so haben wir nach einer Weile ausgehandelt, es gemeinsam zu schaffen, ohne zu Stören im Chor sitzen zu bleiben. Gesungen hat er in dieser Stunde nicht, aber er ist zum ersten Mal nicht weggelaufen. Und später haben wir sogar seinen Spaß an der Blockflöte rauskitzeln können!

Nicht die Hoffnung verlieren, heißt außerdem immer weiter zu kämpfen, auch wenn es zwecklos scheint. Ein Bereich von Dorcas ist die Aktion „Bom de bola, bom na escola", „Gut mit dem Ball, gut in der Schule". In Teams verschiedener Altersklassen trainieren die Kinder und Jugendlichen, um an Fußballturnieren teilnehmen zu können. Im vergangenen Jahr schrumpfte innerhalb kürzester Zeit die Motivation der 16-18-jährigen Jungs und mit ihr auch die Anwesenheit und Teilnehmerzahl. Am Ende waren von dem Team noch drei übrig. Eine Entwicklung, die selbstverständlich den Trainer Henrique besonders mitgenommen hat. „Es fühlt sich manchmal an, als hätte dieses Viertel Krebs und wir würden versuchen es mit Schmerzmitteln zu behandeln."
Lichtblick war Fábio, einer der Übriggebliebenen. Bei ihm hat die geteilte Leidenschaft für Fußball so tiefe Wurzeln geschlagen, dass er Sportwissenschaften studieren möchte, so wie Henrique. Fábio unterstützt ihn schon beim Training der Jüngeren. Er bekommt auch ein bisschen Geld dafür. Solche Träume laufen bei Dorcas nicht ins Leere. Es wurden Sponsoren gefunden, nicht nur für sein Studium, sondern auch für den Aufbaukurs, der in Brasilien im Grunde unumgänglich ist, um die schwierigen Aufnahmetests zu schaffen. Dann der Rückschlag. Fabio hat den Test nicht gleich beim ersten mal bestanden. Kein Problem für den Sponsor, er kann den Kurs einfach wiederholen, aber seine Eltern verstehen nicht warum er mit 18 weiter zur Schule gehen sollte und nicht anfängt zu arbeiten. Auch er beginnt zu zweifeln. Es bedurfte vieler Gespräche und Überzeugungskraft. Alle haben versucht ihm den Rücken freizuhalten und es hat sich gelohnt. Im August dieses Jahres hat er die Prüfung geschafft und im Februar wird er sein Studium beginnen!

Letztlich bedeutet Hoffnung den festen Glauben daran, dass es möglich ist, die bestehenden Strukturen von Armut zu durchbrechen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das macht die Arbeit dort so besonders. Die Leiterin Darclê hat es mal so formuliert: „Ich arbeite dafür, dass wir alle irgendwann arbeitslos sind." Hier spielt keiner den Missionar und Retter. Vielmehr geht es, über die persönliche Entwicklung hinaus, darum das Verantwortungsbewusstsein und die Partizipation für die eigene Nachbarschaft zu wecken. „Ich bin sehr gespannt, wer von Euch in ein paar Jahren meinen Job übernimmt!" Eine klare Ansage von Darclês Seite, die beginnt Wurzeln in den Köpfen der Teilnehmer zu schlagen.
Fábio hat seine Karriere im Projekt schon begonnen. Aber auch einige Jugendliche aus der Brass Band wünschen sich, Musiklehrer bei Dorcas werden zu können. Es müssen aber nicht unbedingt die akademischen Erfolge sein, die auf diesem Weg des Projekts unterstützen. Auch die beiden Mütter, die als Köchinnen angestellt sind, tragen einen großen Teil zur Akzeptanz für das Projekt im Viertel bei. Schlussendlich geht es, darum zu verstehen, welche Chancen Dorcas bietet. Und das tut auch eine Sofia, die mit ihren 10 Jahren und nach vielen Versuchen immer noch nicht lesen kann. Aber sie ist die Erste, die sich gegenüber ihren Klassenkameraden dafür einsetzt die Klassenräume in Schuss zu halten und stets ihre Hilfe anbietet. Sie hat ihre Rolle als Teil der Veränderung verstanden. Und ihre Verbundenheit zum Projekt wird mit Sicherheit auch für sie in Zukunft Früchte tragen.
Denn es geht nicht nur, darum der jungen Generation des Bonfim das Fischen beizubringen, um ihren eigenen Hunger zu stillen. Es geht, darum ihnen zu zeigen, auch ihren Kindern die gelernten Werte zu vermitteln.

Nicht die Hoffnung zu verlieren, ist an die Kinder und Jugendlichen zu glauben, damit sie es irgendwann selber können und so auch in der Zukunft Träume schenken.

[Text: Karla Eberle. Fotos: Keren Moura, Karla Eberle]

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